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Über das gute Leben: Der große Artikel über die Stoiker

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Philosophie war früher eine praktische Wissenschaft: Sie sollte die Frage beantworten, wie man ein gutes Leben führt. Heute ist das ganz anders.

Für die einen besteht »Philosophie« aus kitschigen Kühlschrank-Postkarten und pseudo-motivierenden Wand-Tattoos mit irgendwelchen – meist englischen – Kalendersprüchelchen. Für die anderen – das sind diejenigen, die man heute als »Philosophen« bezeichnet, weil sie es studiert haben – ist Philosophie nichts anderes als ein Duell darum, wer die komplexeren, oft völlig lebensfremden Sachverhalte besser argumentiert. Schach mit Wörtern, sozusagen. Ich nenne die erste Gruppe Lifestyle-Philosophen und die zweite Gruppe Elfenbeinturm-Philsophen.

Das sind natürlich die beiden Extreme – und bewusst provokant formuliert. Aber wirklich: Philosophie ist heutzutage entweder irgendein flaches Bullshit-Gelaber über den »Sinn des Lebens« und alles was »deep« ist – oder eine völlig abstrakte Diskussion um Wortnuancen und feinste Unterschiede bei der Definition von Begriffen. Beide Bereiche haben ihre Daseinsberechtigung – das ist klar. Aber sie sind von einer Philosophie im klassischen Sinne – einer Philosophie für ein gutes Leben – so weit entfernt wie Zazas Elfmeter vom Tor.

Die heutige Verwendung der Philosophie hat nichts mehr mit ihrem ursprünglichen Anspruch zu tun. Damit meine ich ganz konkret, dass Philosophie eben nicht mehr dafür genutzt wird, wofür sie eigentlich da ist: als Werkzeugkasten, der es einem ermöglicht, ein gutes Leben zu führen. Das hat auch der Schweizer Bestseller-Autor Rolf Dobelli erkannt und darüber unlängst einen weiteren Bestseller geschrieben. Viele der dort vorhandenen Ratschläge stammen von den Stoikern. Von den Prinzipien und Techniken, die diese alten Griechen und vor allem Römer nutzten, wird auch dieser Artikel handeln.

Wenn Du direkt über die Prinzipien und Techniken lesen möchtest, kannst Du die nächsten drei Absätze überspringen.


Die innovativen Amerikaner

In den USA – die uns natürlich wieder weit voraus sind – erleben die Stoiker im Übrigen bereits seit einigen Jahren eine Renaissance. Dort hat William B. Irvine bereits 2008 ein sehr gutes Buch über die Stoiker geschrieben: »A Guide To The Good Life: The Ancient Art Of Stoic Joy«, das ich jedem empfehlen kann. Auch der bekannte Unternehmer und Autor Tim Ferriss hat die Stoiker – und insbesondere wie Unternehmer ihre Techniken nutzen können – 2009 in einem Artikel beschrieben.

Wirklich populär gemacht hat Ryan Holiday dann aber den stoicism. 2015 erschien sein Buch »The Obstacle is the Way: The Ancient Art of Turning Adversity to Advantage« und nur ein Jahr später »The Daily Stoic: 366 Meditations on Wisdom, Perseverance, and the Art of Living: Featuring new translations of Seneca, Epictetus, and Marcus Aurelius«. Auch drei der reichsten Menschen der Welt – Bezos, Buffett und Gates – sind bekanntermaßen große Anhänger der stoischen Lehre.

Die lahmen Deutschen

In Deutschland hört man von den Stoikern dagegen wenig bis gar nichts. Altkanzler Helmut Schmidt war ein Fan von Marc Aurel  – das ist bekannt. Populär sind die Stoiker allerdings keineswegs. Schließlich sind deren Schriften ja auch schon völlig veraltet und lesen sich dazu auch noch so mühsam… Die Wahrheit aber ist folgende: die Ideen der Stoiker sind heute aktueller denn je.

Ich kann und will in diesem Artikel keine historisch korrekte Abhandlung über die Geschichte der Stoiker abliefern. Das können Historiker weit besser. Allerdings kann ich einige der stoischen Prinzipien und Techniken erklären, die ich persönlich sehr effektiv finde. Ich kann jedem die Lektüre der Werke von Seneca und Marc Aurel empfehlen, auch wenn sie sprachlich nicht dem entsprechen, was man von heutigen Texten gewohnt ist.

Die Stoa

Bevor ich mich den Prinzipien der Stoiker widme, kurz zur Geschichte. Die Stoa ist eine philosophische Strömung aus Griechenland, die sich aus den Zynikern herausbildete. Den Höhepunkt erreichte die Stoa allerdings im alten Rom. Die bekanntesten Stoiker sind Marc Aurel, römischer Kaiser, Seneca, Dichter und Philosoph und Epiktet, ebenfalls Philosoph. Anstelle einer langen geschichtlichen Abhandlung über die Stoiker möchte ich direkt in medias res gehen: Was also sind wichtige stoische Prinzipien, die auch heute noch bedeutend sind?


Stoische Prinzipien und Techniken

Im Nachfolgenden möchte ich fünf Prinzipien und Techniken der Stoiker vorstellen. Dabei lasse ich die großen Stoiker selbst zu Wort kommen und halte mich im Hintergrund. Dennoch beschreibe ich kurz, was mit den Prinzipien gemeint ist.

  1. Im Einklang mit der Natur leben: Das tun, wofür man geschaffen ist
  2. Tugendhaft leben: Weisheit, Gerechtigkeit, Disziplin
  3. Sich der Endlichkeit des Lebens bewusst sein: Memento mori
  4. Negative Visualisierung üben: Sich das Schlimmste vorstellen
  5. Der Fels in der Brandung sein: Amor fati

1. Im Einklang mit der Natur leben: Das tun, wofür man geschaffen ist

Die Kernbotschaft der stoischen Philosophie lautet: Lebe im Einklang mit der Natur. Seneca beschreibt das so:

Eine weitere, ergiebige Quelle von Ärgernissen ist die krankhafte Sucht, dir ein erkünsteltes Aussehen zu geben und dich niemandem in deiner natürlichen Gestalt zu zeigen, eine nicht vereinzelte Erscheinung; denn die Zahl derer ist nicht gering, die ein Leben führen voller Verstellung und auf den prunkenden Schein berechnet.
 — Seneca (Von der Seelenruhe)

Und auch Mark Aurel schlägt in eine ähnliche Kerbe:

Wenn der in uns herrschende Geist sich in einem naturgemäßen Zustande befindet, so nimmt er den Ereignissen gegenüber eine solche Stellung ein, daß er sich jederzeit in das Mögliche und Gegebene mit Leichtigkeit zu finden weiß.
 — Marc Aurel (Wege zu sich selbst)

Was genau bedeutet es, im Einklang mit der Natur zu leben? Ich finde, der nachfolgende Text von Mark Aurel beschreibt dies am besten:

Wenn du des Morgens so träge aufstehst, so laß dir den Gedanken zur Hand sein: »Ich erwache, um als Mensch zu wirken.« Was soll ich nun verdrießlich sein, wenn ich hingehe, zu tun, weshalb ich geboren und wozu ich in die Welt eingeführt worden bin? Oder bin ich dazu geschaffen worden, um auf meinem Lager liegend mich zu wärmen? »Aber das ist eben angenehmer.« Du bist also zur Lust geboren und gar nicht zur Tätigkeit?
 — Marc Aurel (Wege zu sich selbst)

Die erste Lehre der Stoiker lautet also: Lebe im Einklang mit der Natur. Als Mensch bedeutet das: Gebe dich einer Sache hin, die Bedeutung hat. Suche im Leben nach meaning. Das hat auch der zuletzt populär gewordene Kanadier Jordan Peterson erkannt. Hier ein Video dazu:

https://www.youtube.com/watch?v=NX2ep5fCJZ8&ab_channel=AlexSwan

2. Tugendhaft leben: Weisheit, Gerechtigkeit, Disziplin

Um im Einklang mit der Natur zu leben, muss man tugendhaft leben. Das ist das zweite Gebot der Stoiker. Tugendhaft zu leben, bedeutet, das richtige zu tun: Die Tugend leitet den Weg.

Was bedeutet es, tugendhaft zu leben? Seneca sagt dazu:

Wohlan denn, man lasse der Tugend den Vortritt, und jeder Schritt wird gesichert sein. Ein Übermaß von Lust ist schädlich: bei der Tugend braucht man nicht zu fürchten, daß ein Übermaß bei ihr eintrete, denn in ihr selbst liegt ja das Maß. Das ist kein Gut, was mit seiner eigenen Größe zu ringen hat. Wer von Natur ein vernunftbegabtes Wesen ist, was kann dem Besseres dargeboten werden als die Vernunft? 
 — Seneca (Von der Seelenruhe)

Laut Seneca muss man der Tugend den Vortritt lassen. Daher werden die Stoiker oft als Gegenspieler zu den hedonistischen Epikureern gesehen:

Und wenn du Gefallen findest an jener Verdoppelung von Tugend und Lust und nur in diesem Geleite den Weg zum glücklichen Leben zurücklegen willst, gut, so gehe die Tugend voran, die Lust sei nur ihr Begleiter und schwebe wie ein Schatten um den Körper. Die Tugend, diese erhabenste Herrscherin, zur Magd der Lust zu machen, dazu kann nur der sich verstehen, dem für wirkliche Größe jede Auffassung fehlt.
 — Seneca (Von der Seelenruhe)

Auch Marc Aurel hat etwas dazu zu sagen:

Jederzeit sei ernstlich darauf bedacht, als Römer und als Mann die dir obliegenden Geschäfte mit gewissenhaftem und ungekünsteltem Ernste, mit warmer Menschenliebe, Freimut und Gerechtigkeit zu vollziehen und alle anderen Einbildungen von dir fern zu halten.
 — Marc Aurel (Wege zu sich selbst)

Er fügt folgende Tugenden hinzu:

Zeige demnach das an dir, was ganz in deiner Macht steht, Lauterkeit, Ehrbarkeit, Geduld in Unlust, Erhabenheit über Lust, Zufriedenheit mit deinem Geschick, Genügsamkeit, Wohlwollen, Freimütigkeit, Einfachheit, Ernsthaftigkeit und Seelengröße!
 — Marc Aurel (Wege zu sich selbst)

3. Sich der Endlichkeit des Lebens bewusst sein: Memento mori

Die Stoiker glauben, dass nichts von Dauer ist: Alles ist vergänglich. Auch ich teile diese Auffassung. Kein Zustand bleibt für immer bestehen – damit müssen wir uns abfinden. Das hat auch Steve Jobs, der 2004 mit einer Krebserkrankung kurz vor dem Tod stand bemerkt. Eindrücklich schildert er seine Lehren in dieser bekannten Standord-Commencement-Speech:

https://www.youtube.com/watch?v=UF8uR6Z6KLc&ab_channel=Stanford

Ohne den Tod dagegen wäre die Zeit, die wir haben, nicht mehr so wertvoll. Gut, dass es den Tod gibt – denn er hilft uns, unsere Zeit wertzuschätzen. Das sagt Marc Aurel dazu:

Wir müssen uns also beeilen, nicht nur weil wir dem Tode mit jedem Augenblicke näher kommen, sondern auch deswegen, weil das Vermögen, die Dinge zu verstehen und zu verfolgen, oft schon früher aufhört.
 — Marc Aurel (Wege zu sich selbst)

Und:

All dein Tun und Denken sei so beschaffen, als ob du möglicherweise im Augenblick aus diesem Leben scheiden solltest.
 — Marc Aurel (Wege zu sich selbst)

Weiter:

Richte dich nicht so ein, als solltest du noch zehntausend Jahre leben. Dein Ende ist schon nahe! Vielmehr, solange du lebst, solange es in deiner Macht steht, sei gut!
 — Marc Aurel (Wege zu sich selbst)

Und abschließend:

Folgende zwei Wahrheiten muß man sich also merken: einmal, daß von Ewigkeit her alles gleich sei und sich im Kreise bewege und daß es keinen Unterschied mache, ob einer dieselben Dinge hundert oder zweihundert Jahre oder eine grenzenlose Zeit hindurch beobachte; zum anderen, daß der Längstlebende und der sehr bald Dahinsterbende gleichviel verlieren; denn nur der gegenwärtige Augenblick ist es, dessen jeder verlustig gehen kann, da er ja diesen doch allein besitzt; was einer aber nicht besitzt, das kann er auch nicht verlieren.
 — Marc Aurel (Wege zu sich selbst)

Es bringt nichts, der reichste Mensch auf dem Friedhof zu sein. Das Leben ist endlich. Wenn wir uns dessen bewusst sind, bekommt die Zeit, die wir zur Verfügung haben, eine neue Bedeutung.

4. Negative Visualisierung üben: Sich das Schlimmste vorstellen

In Deutschland geht es uns gut. Wir beschweren uns zwar immer, aber es könnte viel schlimmer sein. Das ist die negative Visualisierung.

Marc Aurel dazu:

Auf die Zukunft nahm er von ferne schon Bedacht und machte ohne viel Aufhebens sich auf die geringsten Vorfälle gefaßt. 
 — Marc Aurel (Wege zu sich selbst)

Wenn wir Schlimmes antizipieren, kann es uns nichts anhaben. Das gilt insbesondere auch für weniger freundliche Mitmenschen:

Gleich in der ersten Morgenstunde sage zu dir: Heute werde ich mit einem vorwitzigen, undankbaren, übermütigen, ränkevollen, verleumderischen, ungeselligen Menschen zusammentreffen.
 — Marc Aurel (Wege zu sich selbst)

5. Der Fels in der Brandung sein: Amor fati:

Kommen wir zum letzten Prinzip der Stoiker: Dinge, die wir nicht ändern können, zu akzeptieren. Der bekannte Fels in der Brandung ist die Metapher für diese Einstellung. Den Fels finden wir schon bei Marc Aurel in diesem wundervollen Text:

Sei wie ein Fels, an dem sich beständig die Wellen brechen! Er bleibt stehen, und rings um ihn legen sich die angeschwollenen Gewässer!
 — Marc Aurel (Wege zu sich selbst)

Hier ein weiterer Ausschnitt aus Marc Aurels Texten:

Die Außendinge selbst berühren die Seele auf keinerlei Weise. Sie haben keinen Eingang zu ihr und können die Seele weder umstimmen noch irgendwie bewegen. Sie erteilt sich vielmehr selber allein Stimmung und Bewegung, und nach Maßgabe der Urteile, welche sie über ihren eigenen Wert fällt, gestaltet sie auch die ihr vorliegenden Dinge.
 — Marc Aurel (Wege zu sich selbst)

Stoische Ruhe zeigt so sich:

Dort aber mutig zu ertragen, hier nüchtern zu bleiben, verrät einen Mann von vollendeter und unbesiegbarer Geistesstärke, und in diesem Lichte zeigte er sich während der Krankheit des Maximus.
 — Marc Aurel (Wege zu sich selbst)

Dass man in Zeiten des Erfolges einen kühlen Kopf bewahren sollte, sieht man an diesem Text:

Es widerfährt dir etwas? Gut! Es ist dir von Anfang an nach dem Lauf des Alls so bestimmt und jedes Begegnis durch Schicksalsfügung beschieden worden. Überhaupt aber: kurz ist das Leben; von der Gegenwart muß man durch wohlüberlegtes und rechtschaffenes Tun Gewinn ziehen. Auch in Erholungsstunden bleibe nüchtern!
 — Marc Aurel (Wege zu sich selbst)

Abschließend dieser kurze Text:

Unter den Wahrheiten aber, welche dir am meisten zur Hand sein müssen, richte vorzüglich auf folgende zwei dein Augenmerk: einmal, daß die Gegenstände der Sinnenwelt deine Seele nicht berühren, sondern Außendinge sind und unbeweglich bleiben, mithin Störungen deines Seelenfriedens nur aus deiner Einbildung entstehen, und dann, daß alles, was du siehst, gar schnell sich verändert und nicht mehr sein wird. Und von wievielen Veränderungen bist du selbst schon Augenzeuge gewesen! Erwäge doch ohne Unterlaß: Die Welt beruht auf Wechsel, das Leben auf Meinung.
 — Marc Aurel (Wege zu sich selbst)

Amor fati bedeutet »Liebe dein Schicksal«. Wir haben nur begrenzt Kontrolle darüber, was in unserem Leben passiert. Alles, worauf wir keinen Einfluss haben, müssen wir hinnehmen.

Das waren fünf Prinzipien der Stoiker. Sicherlich gibt es noch mehr über die Stoiker zu sagen, aber dieser Text soll in erster Linie einen Einstieg in die Philosophie der Stoiker geben. Für mich persönlich ist der Stoizismus eine praktische Lebensphilosophie, weit entfernt von den Plattitüden der Lifestyle-Philosophen und dem lebensfernen Argumentationen der Elfenbeinturm-Philosophen.

Ich empfehle jedem die Lektüre der Werke der Stoiker. Viel Spaß damit!

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