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Die Kunst des Weglassens: Warum »via negativa« ein unterschätztes Konzept ist

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In den letzten Tagen und Wochen habe ich viel über das mentale Modell »via negativa« nachgedacht. Nassim Taleb, der brillante, aber auch umstrittene Philosoph und Autor bezeichnet es als einen der wichtigsten Denkansätze überhaupt. Ziel dieses Artikel ist, zu zeigen, dass oft nicht nur durch die bekannte Methode — das Hinzufügen — sondern durch das Weglassen eine Verbesserung erreicht werden kann. Und das in den unterschiedlichsten Bereichen: Sowohl im privaten wie im beruflichen Kontext kann die Kunst des Weglassens eingesetzt werden. Zunächst möchte ich die Frage beantworten, was via negativa überhaupt bedeutet. Danach werde ich Beispiele aufzeigen, in denen es eine Rolle spielt. Abschließen werde ich mit einer Reihe an Fragen, die via-negativa-Möglichkeiten skizzieren.


Was ist via negativa?

Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten, Veränderung herbeizuführen. Erstens kann man neue Dinge einführen. Das nennt man via positiva und ist zum Beispiel dann der Fall, wenn neue Gesetze verabschiedet, neue Richtlinien formuliert oder neue Produkte vorgestellt werden. Zweitens kann man bestehendes reduzieren — dann ist von via negativa die Rede. Das klingt auf den ersten Blick zunächst trivial und banal. Tatsächlich verbirgt sich dahinter aber weitaus mehr!

In Wahrheit ist via negativa nämlich sehr, sehr mächtig — oft weit mächtiger als via positiva! Wenn Michelangelo aus einem Marmorblock die Skulptur des David (die wohl berühmteste Skulptur überhaupt) fertigt, dann fügt er nichts hinzu. Er nimmt nur das weg, was überflüssig ist. Beim Gang zum Friseur passiert (idealerweise) das Gleiche. Und auch eine Diät funktioniert nach dem Prinzip von via negativa. Beim Taillieren eines Anzugs wird auch kein Stoff hinzugefügt — im Gegenteil: überflüssiger Stoff wird entfernt.

Via negativa kann auch als Filter betrachtet werden. Das gesamte Leben auf der Erde ist nach diesem Prinzip zu Stande gekommen. Natürliche Auslese heißt: was nicht überlebt, pflanzt sich auch nicht fort — via negativa. Die positiven Effekte überlässt die Evolution größtenteils dem Zufall in Form von Mutationen im Erbgut (wobei die tatsächlichen Vorgänge sehr komplex sind). Umgekehrt überleben so auch Dinge, die keinen erkennbaren Nutzen (mehr) haben, wie ein kleiner Zeh oder der menschliche Blinddarm (neuere Studien zeigen jedoch, dass dem Blinddarm sehr wohl eine Funktion im Immunsystem zukommt; ich besitze allerdings keinen mehr). Um es deutlicher zu machen: Die Evolution erhält nicht das, was konkret zum Überleben beiträgt (via positiva), sondern filtert all das aus, was nicht überlebt. Sie ist konservativ in dem Sinne, dass sie alles, was überlebt, erhält—ob es nun direkt zum überleben beiträgt, oder nicht. Ein feiner, aber entscheidender Unterschied.

Der Erfolg der menschlichen Evolution zeigt aber auch: bei strategischen Entscheidungen ist es ist häufig die sichere Strategie, basierend auf vorhandenen Erfahrungen das Schädliche auszuschließen, als durch radikale neue Ansätze, zu versuchen, einen positiven Effekt zu erzielen. Via positiva birgt eine sehr hohe Unsicherheit: Tritt der gewünschte Effekt tatsächlich ein? Kommt es zu unerwünschten Nebeneffekten, die alles viel schlimmer machen? Oder wurde letztlich viel Aufwand betrieben, ohne dass überhaupt ein Effekt erzielt wurde?

Das ist jedoch keineswegs ein Argument gegen Experimente, Risiko und Fortschritt! Sicherer heißt nämlich nicht automatisch besser. Ein gutes Beispiel hierfür sind Start-ups. Sie versuchen ein Problem via positiva radikal besser zu lösen, als bisherige Unternehmen. Die allermeisten Start-ups scheitern. Dennoch sind Start-ups für die Gesellschaft insgesamt von enormer Bedeutung. Denn wenn sie mal erfolgreich sind, profitiert die breite Mehrheit von diesem Fortschritt. Unternehmer sind moderne Helden, doch nur die wenigsten erklimmen den Olymp.

In Bezug auf die Epistemologie, die sich mit der Frage nach den Bedingungen von begründetem Wissen beschäftigt, spielt via negativa eine wichtige Rolle: Es ist stets einfacher zu zeigen, dass etwas nicht zutrifft (via negativa), als eine Aussage zu beweisen (via positiva). Für den Negativbeweis, reicht ein einziges Gegenbeispiel! Für den Positivbeweis müssen alle möglichen Fälle bewiesen werden. Letzteres ist bei einer unbegrenzten Unzahl von Fällen schlichtweg unmöglich. Ein anschauliches Beispiel ist das des schwarzen Schwans, das im gleichnamigen Buch von Nassim Taleb populär gemacht wurde. Um die Aussage “alle Schwäne sind weiß” zu widerlegen, reicht die Beobachtung eines einzigen schwarzen Schwanes. Umgekehrt müsste man alle Schwäne der Welt überprüfen, um die Aussage zu beweisen.


Via negativa in Zitaten

Bei genauerer Betrachtung, begegnet einem der Gedanke von via negativa in zahlreichen Sprichwörtern und Zitaten bekannter Persönlichkeiten. Ein paar davon sind hier aufgeführt:

Less is more/Weniger ist mehr — Sprichwort

Weniger, aber besser — Design-Leitlinie von Braun (Dieter Rams)

Keep it simple, stupid — Sprichwort

“The difference between successful people and really successful people is that really successful people say no to almost everything« — Warren Buffet


Via negativa in Büchern

In unserer komplexen Welt gibt es einfach of ein »zu viel«. Aus genau diesem Grund wurden Bücher geschrieben, die »Simplify your Life« oder »The Life-Changing Magic of Tidying Up: The Japanese Art of Decluttering and Organizing« heißen. In beiden Büchern geht es darum, die Vielzahl an Besitz zu reduzieren — auf das Wesentliche. Mark Mansons Buch »The Subtle Art of Not Giving A Fuck« schlägt in die selbe Kerbe: Man muss sich entscheiden, über welche Themen es sich aufzuregen überhaupt lohnt. Auch andere Bücher, wie »Essentialism: The Disciplined Pursuit of Less« befassen sich mit dem Reduzieren. Reduzieren bedeutet immer auch, den Fokus von vielen Dingen auf weniger Dinge zu verschieben. Das beschreibt Garry Keller in seinem Buch »The One Thing«: hier soll sich auf eine Sache — the one thing — konzentriert werden. Schließlich führt dieser Fokus auf eine Sache dazu, dass man Deep Work — wie im gleichnamigen Buch von Cal Newport beschrieben –, machen kann. Deep Work ist fokussiertes, ablenkungsfreies Arbeiten — das Gegenteil also von Multitasking.

Natürlich behandeln alle diese Bücher nicht exakt ein- und dasselbe Thema. Allerdings spielt in allen via negativa eine herausragende Rolle. Sämtliche oben genannten Bücher sind in den verschiedensten Kreisen, aus verschiedensten Gründen, populäre Bestseller. Das ist kein Zufall!

Ingesamt nämlich gibt es in der westlichen Welt einen deutlichen Trend hin zum Minimalismus. Vielen Menschen fällt auf, dass viel Besitz nicht immer glücklicher macht. Auch beim Entschlacken (was immer das auch sein soll) geht es um eine Reduzierung. Ich persönliche besitze nur wenige, aber dafür sehr hochwertige Produkte. Anstatt viele billige Schuhe zu kaufen, investiere ich in hochwertige, rahmengenähte Schuhe. Ich habe die Anzahl der Apps reduziert, die Anzahl an Büchern, die Anzahl an Jeans—die Anzahl an Gegenständen ingesamt.


Via negativa im Management

Auch im Management — sowohl in der Praxis als auch in der Forschung — spielt via negativa eine ganz entscheidende Rolle. Nicht umsonst sollen Folien für hohe Vorstandsmitglieder — z.B. sogenannte Executive Summaries — übersichtlich und einfach gehalten sein. Jeder Ballast und jedes überflüssige Detail machen sie schwer zu lesen.

Der iMac und ein klares Produktportfolio brachten Apple wieder auf die richtige Spur

Auch ein komplexes Produktportfolio kann durch via negativa optimiert werden. Als Steve Jobs in den 90er Jahren zu Apple zurückkehrte, krempelte er das breitgefächerte, unübersichtliche Produktportfolio komplett um. Anstelle einer Vielzahl von Computern gab es nunmehr nur noch vier Produkte, die in einer 2×2-Matrix dargestellt werden konnten: das iBook, das PowerBook, den iMac und den PowerMac. Die i-Geräte sind für normale Konsumenten; die Power-Geräte für professionelle Anwender; die »Books« sind mobile Geräte, die »Macs« stationäre Geräte. Diese brillante Vereinfachung des Produktportfolios brachte Apple wieder auf die richtige Spur. Als Käufer wusste man sehr schnell, welche Produkte es gibt. Man wurde nicht mehr—wie es leider noch heute bei den Produktportfolios vieler Unternehmen der Fall ist—von einer unüberschaubaren Produktvielfalt erschlagen!

Zu viel Auswahl lähmt unseren Entscheidungsprozess. Eines der meistzitierten Paper der Psychologie der letzten Jahre zeigt dies eindrücklich. Es wurde ausgeführt von Columbia- und Stanford-Foschern und trägt den Titel »When Choice is Demotivating: Can One Desire Too Much of a Good Thing?«. Es zeigt: Zu viel Auswahl überfordert — mehr ist nicht immer besser. Oder anders: weniger ist (oft) mehr!

Dies wurde auch von Managern von japanischen Unternehmen erkannt. So lag der Fokus des japanischen Managements, das durch Toyotas TPS (Toyota Production System) weltbekannt wurde, unter anderm darauf, alle nicht wertschöpfenden Aktivitäten in der Produktion zu stoppen. Heute will man nicht nur Lean Manufacturing betreiben, sondern überall »lean« sein: Prozesse sollen standardisiertreduziert oder automatisiert werden. Nur so nämlich kann man die Komplexität im Zaum halten. Denn: Durch Entropie wird alles — ob man es will oder nicht — im Laufe der Zeit immer chaotischer und komplexer. Schließlich basiert das Pareto-Prinzip, oft auch einfach nur 80/20 genannt, auf einem via-negativa-ähnlichen Wirkmechanismus.


Fazit

Mit diesem Artikel möchte ich dazu inspirieren, via negativa als Lösungsmöglichkeit für Herausforderungen heranzuziehen. Anbei ein paar konkrete Beispiele in From von Fragen aus den verschiedensten Bereichen, in denen ein Denken nach via negativa sinnvoll sein kann.

  • Ist es wirklich sinnvoll, eine neue Richtlinie einzuführen, oder macht es nicht mehr Sinn, die bestehenden klarer zu formulieren und alles überflüssige zu entfernen?
  • Welche Prozesse sind wirklich wertschöpfend und welche werden nur gemacht, weil man es schon immer so gemacht hat?
  • Welche Reports sind wirklich notwendig und werden genutzt? Welche Reports sollten nicht mehr angefertigt werden?
  • Ist das Produktportfolio möglicherweise zu breit geworden; macht es Sinn, die Produkte klarer zu positionieren? Macht es Sinn, wenig erfolgreiche Produkte aus dem Portfolio zu streichen — denn so wird der Fokus auf die anderen Produkte gerichtet.
  • Soll ich mir wirklich neue Kleider kaufen? Oder macht es erstmal Sinn, das alte Zeug aus der Mottenkiste auf eBay-Kleinanzeigen zu verkaufen/zu verschenken oder der Altkleidersammlung zu geben?
  • Welche Gegenstände in meinen Besitzt bringen mir Freude und Befriedigung — und welche sollte ich besser aussortieren? Welche Möbel stehen nur rum und werden nie benutzt?
  • Brauche ich die verschiedenen monatlichen Abos (Netflix, Prime, Spotify, Apple Music, etc.) wirklich, oder macht es Sinn, nur diejenigen fortzuführen, die ich auch wirklich nutze?
  • Welche ungesunden Lebensmittel (Zucker etc.) kann ich aus meiner Ernährung entfernen (oft sinnvoller als vermeintliche »Superfoods« via positiva zu konsumieren)? In diesem Zusammenhang: Anstelle von Medikamenten (via positiva) kann für die Gesundheit das Unterlassen z.B. Rauchen aufhören (via negativa) viel entscheidender sein.
  • Welche Apps auf meinem Home-Screen brauche ich wirklich?
  • Welche Bilder aus meiner Foto-Bibliothek zeige ich wirklich und will ich auch wirklich aufheben, und welche sind einfach nur da?
  • Welche Bücher, die ich im Regal habe, will ich wirklich lesen? Macht es vielleicht Sinn, Bücher, die man sowieso nie zu lesen gedenkt, zu verschenken?
  • Welche Aktivitäten bereiten mir wirklich Freude — und welche sollte ich besser unterlassen?

Ich möchte mit diesem Artikel niemanden dazu verleiten, plötzlich alles wegzuwerfen. Denn: Gegenstände haben neben ihrem intrinsischen Wert auch einen subjektiven Wert, der sich von Person zu Person unterscheidet. Ich beispielsweise kaufe sehr viele gebrauchte Produkte auf eBay-Kleinanzeigen (Displays, Smartphone, Möbel), die andere Personen nicht mehr wollen oder benötigen. Umgekehrt verschenke ich Bücher, stelle sie in öffentliche Bücherschränke oder verschenke/verkaufe nicht mehr benötigte Möbel auf eBay-Kleinanzeigen.

Das Weglassen ist eine oft nicht beachtete und unterschätze Methode und ein Konzept, das eine große Wirkung erzielen kann. Und dabei ist es oft viel einfacher umzusetzen (insbesondere im Hinblick auf Kosten) als es beim gegenteiligen Hinzufügen der Fall ist. Es macht Sinn, die Kunst des Weglassens in sein Repertoire aufzunehmen …

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