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Explore & Exploit bei Büchern: Die zwei Arten des Lesens

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Ich habe mir vor Kurzem die Frage gestellt, wie viele Bücher ich in meinem Leben wohl lesen werde. Bisher sind es etwas mehr als 300 Bücher, die ich seit Beginn meiner Datenerfassung im Herbst 2015 gelesen habe (davor gab es sicherlich auch einige Dutzende, aber Jugend- und Schulbücher sind schwer zu zählen).

Wenn ich nun in Zukunft meinen bisherigen Pace von 100 Büchern pro Jahr beibehalte – und davon ausgehe, dass ich 90 Jahre alt werde – dann könnte ich bis ans Lebensende noch 6.300 Bücher lesen. Insgesamt wäre ich also bei etwa 6.600 Büchern.

Das Argument für fokussiertes Lesen

Gemessen an der Anzahl an verfügbaren Büchern ist das natürlich ein verschwindend geringer Bruchteil. Denn: Es gibt in den beiden Sprachen, in denen ich ein Buch lesen kann – Deutsch und Englisch –, eine schier unüberschaubare Vielzahl an Büchern. Und jedes Jahr werden es mehr. Das macht mich ein kleines bisschen traurig, denn ich werde nicht alle Bücher lesen können, die ich lesen möchte.

Der Grund, warum ich diese kleine Rechnung an dieser Stelle kommentiere, ist folgender: Unsere Zeit ist begrenzt und daraus ergeben sich auch Grenzen für alles andere, was wir tun. Das gilt für die Anzahl an Sonnenuntergängen, die wir beobachten können, die Anzahl an Weihnachtsfeiern mit der Familie, die Anzahl der Reisen, die wir unternehmen. Und natürlich auch die Anzahl der Bücher, die wir lesen. Das bedeutet, dass wir einen gewissen Qualitätsanspruch an jedes Buch stellen sollten. Denn unsere Zeit ist zu viel zu kostbar, um sie mit einem schlechten Buch zu verschwenden.

Das Argument für breites Lesen

Bei alledem müssen wir aber bedenken, dass es – ex ante – sehr schwierig ist vorherzusagen, ob ein Buch ein gutes oder weniger gutes ist. Erschwerend kommt hinzu, dass mir ein Buch gefallen könnte, das eine andere Person gar nicht gut findet. Es ist auch möglich, dass man ein Buch zum falschen Zeitpunkt liest. Tatsache nämlich ist, dass wir unsere Interessen im Laufe unseres Lebens stetig anpassen.

Es ist außerdem Folgendes zu beachten. Wenn wir nur Bücher lesen, von denen wir uns recht sicher sein können, dass sie uns gefallen werden, gehen wir – paradoxer Weise – ein Risiko ein. Bei einer solchen Bücher-Auswahlmethode sind wir zwar auf den ersten Blick risikoavers (denn wir trauen uns nicht, „riskante“ Bücher zu lesen, die sich möglicherweise nicht lohnen können). So erhöhen wir die Zufriedenheit mit den gelesenen Büchern. Aber: wenn wir keine riskanten Bücher lesen, entgehen uns auch einige Bücher, die den Horizont erweitern könnten. Möglicherweise bleiben uns ganze Genres komplett verborgen, weil wir nie den Schritt machen und das vermeintliche Risiko eingehen, ein auf den ersten Blick weniger interessantes Buch zu lesen. Das ist das Risiko, das wir eingehen, wenn wir auf dem vermeintlich risikoloseren bekannten Terrain bleiben.

Das alles führt zu einer recht einfachen Frage, der wir uns im Nachfolgenden widmen werden: Sollten wir lieber Bücher bekannter Autoren, bekannter Genres und solche, die eine hohe Wahrscheinlichkeit des Gefallens haben, lesen, oder ist es sinnvoll komplett in die Breite zu gehen und viele neue, riskante Bücher auszuprobieren. Kurz: Sollten wir fokussiert lesen oder breit lesen?

Lassen wir uns nun dieser Frage nachgehen.

Explore vs. Exploit: Das Framework

In der Informatik im Bereich der Algorithmen gibt es das Explore-Exploit-Framework. Exploit beschreibt dabei Aktivitäten im bekannten Raum, während Explore in unbekannten Räumen stattfinden. Das klingt abstrakt, aber glücklicherweise gibt es das Explore-Exploit-Framework auch in der Management-Lehre. Unternehmen stehen nämlich laufend vor folgender Herausforderung:

  • Exploit: Sollen sie bestehende Produkte, die an bestehende Kunden verkauft werden, weiter verbessern und vermarkten? Das ist wenig riskant, aber es wird wohl auch nur zu inkrementellem Wachstum führen. Bekanntes Beispiel: Volkswagen entwickelt einen neuen Golf.
  • Explore: Oder sollen sie neue Produkte für neue Kunden entwickeln und vermarkten? Das ist riskant, aber es kann zu erheblichem Wachstum führen. Bekanntes Beispiel: Amazon führt Amazon Web Services ein.

Richtig gute Unternehmen können dabei oft beides: Explore und Exploit. Sie werden dann als zweihändig – ambidextrous – bezeichnet. Das gelingt allerdings nur sehr wenigen Unternehmen, denn es ist als Exploit-orientiertes Unternehmen (und das sind die meisten großen Unternehmen) sehr schwierig, die Rahmenbedingungen für ein erfolgreiches Explore-Geschäft zu schaffen.

Für Bücher ist dieser Zweiklang glücklicherweise deutlich einfacher – und genau diesem Thema wollen wir uns nach diesem kleinen Exkurs nun widmen. Denn auch bei Büchern können wir Exploit- und Explore-Mechanismen nutzen:

  • Exploit – Fokussiert lesen: Exploit-Bücher zu lesen bedeutet, dass wir Bücher von Autoren, die uns gefallen, lesen. Oder Bücher aus einem Genre, von dem wir ein großer Fan sind. Bei Exploit-Büchern ist das Risiko, dass uns das Buch gefällt, geringer. Aber wir wissen in etwa auch, was uns erwarten wird. Eine positive Überraschung ist also eher unwahrscheinlich. Die Varianz ist überschaubar.
  • Explore – Breit lesen: Explore-Bücher zu lesen bedeutet, etwas experimenteller an die Sache heranzugehen, spontan neue Bücher zu kaufen oder ganz neue Genres auszuprobieren. Bei Explore-Büchern wissen wir nicht genau, was uns erwartet. Ein Buch kann sich als kompletter Fehlgriff herausstellen. Es ist aber auch möglich, dass uns ein Buch wirklich positiv überrascht. Die Varianz ist groß.

Timing: Wann man breit und wann man fokussiert lesen sollte

Die obige Erklärung gibt uns eine ungefähre Vorstellung davon, was uns bei den beiden Arten des Lesens erwartet. Aber – gegeben dem Limit der möglichen Bücher, die man in einem Leben lesen kann – wie soll man nun konkret zwischen diesen beiden Methoden abwägen? Es wird nämlich – außer man liest einfach mehr – nicht möglich sein, ohne Kompromisse beide Methoden gleichzeitig anzuwenden. Es gibt aber einen Ausweg aus diesem scheinbaren Dilemma!

Meine These ist: Solange man noch jung ist, sollte man sich besonders auf Explore-Bücher stürzen! Als junger Mensch kenn man die Welt für gewöhnlich schlecht. Man tut also gut daran, seinen Horizont so gut es geht zu erweitern. Außerdem hat man nur eine ungefähre Vorstellung der eigenen Ziele und Interessen. Es ist deshalb aus meiner Sicht sinnvoll, gerade als junger Mensch Bücher aus den verschiedensten Bereichen zu lesen. Das hat mehrere Gründe.

Erstens: Die Explore-Bücher erlauben uns den Blick über den Tellerrand und können uns ganz neue Welten erschließen. Auch, wenn uns das Buch nicht gefällt haben wir etwas gelernt und ein neues Thema/Genre/Gebiet zumindest in Ansätzen kennengelernt.

Zweitens: Als junger Mensch hat man noch die Zeit zu lernen. Als älterer Mensch wird die verfügbare Zeit knapper und damit das Risiko eines Explore-Buchs größer.

Drittens, und vielleicht am wichtigsten: Bücher sind sehr günstig! Der Kauf eines Explore-Buchs für 10 Euro ist weniger als Investment, sondern vielmehr als kleines optionsartiges Experiment zu sehen. Im schlimmsten Fall sind wir 10 Euro los, was man wir verkraften können sollten. Im besten Fall hat man für 10 Euro die Option erlangt, ein vollkommen neues Gebiet zu erschließen. Das ist in meinen Augen ein ziemlich guter Deal.

Wenn wir in den jungen Jahren also bei Büchern viele Experimente machen, haben wir mehr Datenpunkte für den Rest unseres Lebens. Außerdem haben wir durch diese Experimente eine viel besser Vorstellung davon, was uns gefällt und was nicht. Das erlaubt es uns dann, in Zukunft Bücher eher im fokussierten Modus zu lesen. Und dann können wir in bestimmten Gebieten zu richtigen Experten werden. Das bedeutet allerdings nicht, dass man in höherem Alter nur noch Exploit-Bücher lesen sollte. Denn ein bisschen Abwechslung und Risiko schadet nie. Und im schlimmsten Fall kann man das Explore-Buch bei Nichtgefallen immer noch beenden, verkaufen oder verschenken.

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