Der Philosophen-Kaiser: Was wir auch heute noch von Marc Aurel lernen können

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Stoiker

Marc Aurel war zu seiner Zeit der mächtigste Mann der Welt: Als Kaiser Roms herrschte er über ein Gebiet, das sich von Casablanca zwischen Mittelmeer und Atlantik bis zum Schwarzen Meer bei Georgien erstreckte. Dank seiner Tagebücher – heute als Selbstbetrachtungen oder Meditationen bekannt – können wir noch heute an seinen Gedanken teilhaben.

(Die Tatsache, dass wir auch heute ein fast 2.000 Jahre altes Buch lesen, bedeutet darauf hin, dass es sich hierbei um ein ausgezeichnetes Buch handeln muss! Der bedeutendste Philosoph unserer Zeit – Nassim Taleb – nennt ein solches Werk »Lindy«. Lindy sind auch: Stradivari-Geigen, das deutsche Reinheitsgebot, Pfeil und Bogen. Nicht lindy sind: Fernseher, Trivialliteratur, Primark, sämtliche Trends)

Kürzlich habe ich mich dazu entschieden, erneut in Aurels Gedankenwelt einzutauchen. Mir ist erneut aufgefallen, wie zeitlos und universal viele von Aurels Feststellungen sind. Daher möchte ich in diesem Artikel 13 Lehren Marc Aurels aus seinem ersten Buch zusammenfassen (es gibt insgesamt zwölf Bücher).

In seinem ersten Buch nennt Marc Aurel Personen, die ihm wichtige Eigenschaften vermittelt haben – Eigenschaften, so kann man schließen, die er für eine gute Lebensführung für zuträglich erachtet.

Schauen wir uns nun 13 dieser Eigenschaften an. Sämtliche Zitate aus diesem Artikel stammen originalgetreu aus dieser Ausgabe. Sämtliche Hervorhebungen sind von mir.

1. Die Bedeutung von Bildung erkennen

Meinem Urgroßvater habe ich es zu verdanken, daß ich in keine öffentliche Schule gehen mußte, vielmehr zu Hause den Unterricht guter Lehrer genießen durfte und daneben einsehen lernte, daß man in solchen Dingen keine Ausgaben sparen solle.

Marc Aurel erkennt, das eine Investition in Bildung nie falsch ist. Viele Menschen sind viel zu timide, was Investments in Bildung angeht. Das gilt gleichermaßen für Software wie auch – in ganz besonderem Maße – für Bücher. Bücher sind ebenfalls lindy – man wird auch in 2.000 Jahren noch physische Bücher lesen, davon bin ich überzeugt.

2. Sich vor Schwarzkünstlern hüten

Diognetus warnte mich vor dem Trachten nach eiteln Dingen und dem Glauben an das Gerede der Gaukler und Schwarzkünstler von Beschwörungen, Geisterbann und anderem derart

Auch im römischen Reich gab es bereits Scharlatane, Bro-Marketer und andere Irrlichter, vor denen man sich besser fernhalten sollte. Marc Aurel warnt vor diesen Gestalten, die oft besonders laut daherreden.

3. Bescheiden sein

und verlangte für mich bloß ein Feldbett und eine Tierhaut zum Nachtlager

Das bewusste Einschränken ist typisch für die Stoiker. Durch den bewussten Verzicht wird das, was man hat, erst bedeutungsvoll. Wie Steve Jobs bereits feststellte, gibt der Tod dem Leben seine Bedeutung (Unsterblichkeit nimmt dem Leben die Bedeutung). So verhält es sich auch mit jedem Luxus: Er wird erst im Kontrast zu seinem Nichtvorhandensein das, was er ist. Bewusster Verzicht macht glücklicher.

4. Sich weiterentwickeln

…stammt bei mir die Überzeugung, ich müsse an meiner Besserung und Charakterbildung arbeiten, dagegen die Abwege leidenschaftlicher Sophisten vermeiden, dürfe auch nicht über leere Theorien schriftstellern, noch mit der Miene eines Sittenpredigers Reden vortragen,

Marc Aurel war kein Schwätzer, sondern ein Macher. Auch im alten Rom scheint es bereits das mentale Modell von »Theorie und Praxis« und »Reden und Tun« gegeben zu haben. Außerdem, und das unterscheidet die Stoiker von vielen anderen philosophischen Schulen, zeichnet sich der Stoizismus durch einen Fokus auf die persönliche Entwicklung aus. Marc Aurel könnte damit als Gründervater der Self-Development-Strömung charakterisiert werden (auch wenn er sich bei der aktuellen Entwicklung ebendieser Szene wahrscheinlich im Grabe umdrehen würde – oder auch nicht, siehe #6).

5. Gründlich lesen, nicht oberflächlich sein

Schriften aufmerksam lesen, mich nie mit oberflächlicher Betrachtung zufrieden geben und Schwätzern nicht vorschnell beipflichten.

Marc Aurel zeigt sich erneut als bedachter Mensch, der den Dingen auf den Grund gehen möchte. Er warnt erneut vor den Schwätzern und plädiert für aufmerksames Lesen – eine Fähigkeit, die durch dopamin-induzierten Smartphone-Konsum (auch ich bin schuldig!) immer seltener wird!

6. Geduldig sein gegen Unwissende

Geduld gegen Unwissende und gegen Leute, welche gedankenlosem Wahne frönen

In diesem Zitat zeigt sich Marc Aurel als Menschenfreund, der Menschen im Wahn gegenüber geduldig ist. Und nicht nur diesen: Er befürwortet eine grundsätzliche Geduld gegenüber Unwissenden. Auch dies ist eine seltene und wertvolle Eigenschaft. Es ist auch eine Eigenschaft, die man immer und immer wieder erlernen muss, damit sie bleibt.

7. Leidenschaftslos sein – dennoch zärtlich lieben

Er stattete mich mit der Fähigkeit aus, die zur Lebensweisheit erforderlichen Grundsätze auf eine überzeugende und regelrechte Art aufzufinden und zu ordnen, nie dem Zorne oder einer anderen Leidenschaft Ausbrüche zu gestatten, aber zugleich mit dieser völligen Leidenschaftslosigkeit die Regungen der zärtlichsten Liebe zu verbinden

Den Stoikern wird oft vorgeworfen, emotionslos zu sein. Wie fehlerhaft diese Einschätzung ist, zeigt das obige Zitat eindrücklich. Meiner Einschätzung nach ist das Ziel, »Außendingen« gegenüber weniger anfällig zu sein, vor allem eins: ein Ziel. Jeder Mensch hat Emotionen. Ziel der stoischen Lehre ist es nicht, diese komplett auszuschalten (das wäre im Übrigen auch unmöglich). Ziel ist es vielmehr, Herr über die Emotionen zu werden, eine innere Stärke zu erreichen, die dabei hilft, die Irrungen und Unwägbarkeiten des Lebens zu meistern.

8. Reiches Wissen erlangen – ohne zu prahlen

mich eines guten Rufes, jedoch ohne viel Aufhebens, und eines reichen Wissens, aber ohne Prahlerei, zu befleißigen.

Die stoische Lehre kennzeichnet sich durch das Verbinden scheinbarer Widersprüche. So strebt Aurel einen guten Ruf – jedoch ohne viel Aufhebens an (vielleicht wird ja gerade dadurch der Ruf erst gut?!). Außerdem strebt er nach einem »reichen Wissen« – aber ohne Prahlerei.

9. Freiheit ermöglichen

die Vorstellung von einem Staate, der nach gleichen Gesetzen und nach dem Grundsatze der Bürger- und Rechtsgleichheit verwaltet, und von einem Reiche, wo die Freiheit der Beherrschten höher denn alles geachtet wird.

Rom war keine Demokratie. Und doch geht aus Aurels Lehre der Grundsatz der Freiheit hervor. Dieser ist die wohl wichtigste Errungenschaft aller demokratischen Verfassungen. Aber auch Sicherheit (die mit der Freiheit einen immerwährenden Kampf führt) erkennt Aurel als bedeutend an. In diesem Zusammenhang führt er gleiche Gesetzte als Beispiel auf.

10. Sich selbst beherrschen und seiner Pflicht nachgehen

Maximus überzeugte mich von der Pflicht der Menschen, sich selbst zu beherrschen, sich durch nichts vom rechten Wege abbringen zu lassen, unter allen Umständen und namentlich in Krankheiten guten Mutes zu bleiben, einen aus Milde und Würde gemischten Charakter sich anzueignen und ohne Murren die vorliegenden Geschäfte zu besorgen.

Neben der Entwicklung und stetigen Besserung des eigenen Charakters nennt Aurel auch eine zweite Fähigkeit: sich selbst zu beherrschen. Heute würde man sagen: »Sich selbst treu bleiben«. Und mehr noch: Aurel predigt einen gesunden Optimismus und einen frohen Mut. Am besten gefällt mir das Gemisch aus »Milde und Würde«.

11. Weitsichtig planen, das Schicksal lieben

auf die Zukunft nahm er von ferne schon Bedacht und machte ohne viel Aufhebens sich auf die geringsten Vorfälle gefaßt.

Jeff Bezos, der umstrittene Milliardär (und einer meiner Helden) könnte ein Stoiker sein – oder auch nicht. Was er jedenfalls mit Marc Aurel gemein hat, ist der konsequente Fokus auf die Zukunft. Als Bezos Lob für ein gutes Amazon-Quartal bekam, entgegnete er, dass dieses Quartal bereits vor einigen Jahren »gebacken« wurde. Jetzt arbeite er an den folgenden Quartalen. Auch Marc Aurel rät dazu, die Zukunft zu antizipieren. Aber da ist noch mehr! Teil der stoischen Lehre ist auch, die Zukunft – alles was passiert – so zu nehmen, wie es kommt. Amor fati heißt das – liebe das Schicksal!

12. Das, was man hat, wertschätzen – maßvoll leben

Die Güter, welche zur Erheiterung des Lebens etwas beitragen und die ihm das Glück in Fülle darbot, benutzte er ebenso fern von Übermut als von Ausflüchten und genoß daher das Vorhandene ebenso ungesucht, als er das Fehlende nicht vermißte.

Die Stoiker raten dazu, das zu lieben, was man bereits hat (das ist genauso wie Amor fati, nur auf Objekte bezogen). Anders also als nach immer mehr zu streben, schlagend die Stoiker vor, das bestehende zu schätzen zu lernen. Aus diesem Grund ist es auch sinnvoll, sich bewusst einzuschränken (siehe #3). Aus diesem Kontrast heraus erscheint das, was wir haben, nämlich gleich viel wertvoller.

Außerdem predigt Aurel einen bedachten Umgang mit den »Gütern, die zur Erheiterung des Lebens beitragen«. Damit könnte er typische hedonistische Güter wie Wein, süße Speisen und andere Leckereien meinen.

13. Der Pflicht folgen

zeigte er sich verständig und gemäßigt und als ein Mann, der bei seinem Tun allein die Pflicht, nicht aber den durch Handlungen zu gewinnenden Ruhm im Auge hatte.

Schließlich zeigt sich Aurel als Mann der Pflicht. Hier deutet sich bereits eine deontologische Ethik an, wie wir sie später auch bei Kant in Formvollendung finden werden.

Es ist unschwer zu erkennen, welchen historischen Rang Marc Aurels »Wege zu sich selbst« haben. Aurel greift viele Konzepte und Ideen – darunter Grundzüge moderner Demokratien (Freiheit der Beherrschten), Grundpfeiler der Self-Development-Literatur, Elemente der cognitive behavioral therapy, eine auf Pflichten beruhende Ethik – vor, die erst Jahrhunderte später in Reinform erfunden worden sind. Zugleich lesen sich die Selbstbetrachtungen (je nach Übersetzung wird Aurels Werk Meditationen, Selbstbetrachtungen oder »Wege zu sich selbst« genannt) wie ein Buch, das auch heute – nach Maßstäben der modernen Glücksforschung und der positiven Psychologie – hätte geschrieben werden können.

Tatsache ist: Marc Aurel war nicht nur ein Kaiser, sondern auch ein Philosoph. Wie auch 2.000 Jahr später hat er sich einen Talent Stack aufgebaut, der ihn zu einer der bedeutendsten historischen Figuren hat werden lassen. Auch heute noch helfen seine (lindy) Werke Tausenden von Menschen, ein besseres Leben zu führen. Über wie viele Werke der »modernen« Philosophie (was macht die eigentlich?) kann man das sagen?

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